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Die WG am Meer

In der Alten Pension, einem eigenwilligen Ferienhaus auf der griechischen Insel Thassos,werden die Zimmer vererbt

von Hans W. Korfmann

Ganz am Anfang, als die Schiffe noch Segel trugen und als man im ganzen Ort noch davon sprach, wenn ein Fremder seinen Fuß auf den Boden der Insel setzte, gab es drei Hotels in Limenaria, dem letzten großen Ort im Süden von Thassos, der nördlichsten Insel im griechischen Archipelagos. Das war in den zwanziger Jahren, und die drei einfachen Häuser empfingen Geschäftsmänner, Seefahrer, Archäologen, Dichter, »Künstler und andere Verrückte«, wie Avjerinos Xiotis versichert, der Wirt vom letzten kafenion, das es noch gibt in Limenaria. 

 Dann kam die Zeit, als die nach Diesel stinkende Fähre vom Festland in Limenaria anlegte, »1965 muss das gewesen sein«, sagt Avjerinos. Damals begann einer der geschäftstüchtigen Fährmänner auch mit dem Bau dieses großen Hotels, das im Lauf der Jahre dann Stockwerk um Stockwerk in den Himmel wuchs. Damals begann auch Avjerinos Xiotis, Zimmer über seinem kafenion zu vermieten. Denn die ersten Sommerfrischler kamen nach Thassos, dessen mildes Klima schon der alte Mediziner Hippokrates so euphorisch gelobt hatte. Die Griechen vom Festland, nicht die Reichen, aber doch die etwas feineren Damen und Herren. Es war die Zeit, als der Wirt für die Nacht gerade mal 30 Drachmen bekam. Bis Anfang der siebziger Jahre die ersten Deutschen, Italiener, Engländer anreisten und 50 Drachmen zahlten. Aber schön war es trotzdem, »abends haben wir alle im kafenion zusammen gegessen und getrunken und getanzt, manchmal bis in den Morgen «, sagt Avjerinos. 

 Zu dieser Zeit hatten fern von Thassos sechs Männer den gleichen Traum – sie träumten von einem Haus am Meer. Sie waren weder arm noch reich, weder wagemutig noch lethargisch, sie zogen im Grunde nur den Schluss aus einem nüchternen Gedanken: Im Sommer, wenn die Stadt zu glühen beginnt, wenn die Kinder nachts nicht mehr schlafen können und die Frauen seit Tagen nur noch von der Hitze sprechen und stöhnen wie alte Weiber, dann muss man die Stadt verlassen. Und wenn es auf den Inseln im August keine Zimmer mehr gibt, weil alles längst ausgebucht ist von den Stammgästen, dann muss man sich eben selbst ein Haus am Meer bauen. Also machten sie sich auf die Suche nach einem Stück Land und fanden eines auf der Insel Thassos, »der Smaragdgrünen«, wie sie immer und immer wieder genannt wird wegen ihrer Wälder, die sich grün schillernd im blauen Wasser spiegeln. Das Land, auf dem sie bauen wollten, lag in einem menschenleeren Tal, das an einen menschenleeren, muschel- und marmorweißen Sandstrand führte. Es kostete nicht viel, das kleine Paradies mit den Zypressen, Kastanien, Zedern, Tamarisken und sogar Tannen, es war zu steil, zu unwegsam, zu wild, um etwas wert zu sein in den Augen der Bauern und Schafhirten, das kleine Tal von Tripiti, eine halbe Stunde zu Fuß von Limenaria entfernt. 

Für große Feste bauten sie eine große Terrasse mit Blick aufs Meer

Nach der Arbeit, wenn die Männer in den kafenions saßen und Karten spielten, erzählten sie von ihren Bauplänen. Und so wurden sie allmählich mehr und mehr. Am Ende mussten 40 Zimmer gebaut werden, zwei Stockwerke, eine imposante Marmortreppe am Eingang, breit genug, um Staatsbesuche zu empfangen, und eine große Terrasse mit Blick aufs Meer für große Feste, die bis zum Morgen dauern sollten. Sogar an einen Kindergarten hatten sie gedacht, ein Geschäft sollte eingerichtet werden, es hätte eigentlich ein kleines Dorf, eine zweite Heimat werden sollen. Doch dazu reichte das Geld am Ende nicht, und so entstand ein einziges zweistöckiges, lang gestrecktes Gebäude, ein schmuckloses, praktisches Haus, ein Haus wie aus der Stadt. Es war jedoch so groß und so nah am Strand, dass jeder, der vorbeikam, es für ein Hotel hielt. Touristen schauten interessiert, neidisch beäugten die Insulaner das Eigenheim der Festländer, und bis heute noch sprechen alle, die einen ein bisschen liebevoll, die anderen ein bisschen spöttisch, nur von der Alten Pension. Dabei war es nie eine Pension, in der das Bett täglich neu bezogen und das Zimmer ausgefegt wird. Nein, der Traum vom sonnigen Leben im Haus am Meer, vom langen, wenn nicht ewigen Urlaub am Lebensende, mündete in eine schöne, aber längst nicht mehr traumhafte Wirklichkeit. Das Leben in der Alten Pension war schon bald ein bisschen wie das Leben in der Stadt, ein Leben mit all den kleinen Sorgen, die so ein Eigenheim mit sich bringt. 

 Denn auch in der großen Wohngemeinschaft am Meer geht es ums Putzen, um die Mittagsruhe, um die lauten Gäste der Gäste. Der Vorgarten muss gemacht, das Treppenhaus neu verputzt, Lampen und Abwasserleitungen müssen erneuert werden. Über die notwendigen Arbeiten sind sich die 20 Hausbesitzer auch immer schnell einig. »Doch bis so ein Entschluss dann in die Tat umgesetzt wird, das dauert so seine Weile« in der Alten Pension, sagt Makis, der mit Nachbarn im Restaurant sitzt und aufs Meer schaut. »Man ist ja schließlich hier, um ins blaue Meer zu springen, und nicht, um grauen Mörtel anzurühren.« Makis erbte zwei Zimmer von seinem Vater, eines im ersten Stock und eines im Parterre. Es ist nichts Außergewöhnliches, wenn man vom einen zum anderen Raum durch das halbe Haus laufen muss, weil die Zimmer, je nach Bedarf, schnell einmal getauscht oder an Mitbewohner verkauft werden. Nur selten werden sie an Fremde veräußert. »Wer will schon einziehen in so ein verrücktes Haus? Es gibt sogar Leute in der Gegend, die sagen, dass es hier spukt.« 

14 Marias, alte und junge, essen und trinken und tanzen

Es ist schon ein wenig unheimlich, wenn nach zwei Monaten hitzefrei die Schule wieder beginnt und die Alte Pension plötzlich wie ausgestorben ist. Nur Kostas, der alte Hausgeist, schleicht dann noch durch die langen Gänge. Man erzählt, dass er tagelang im Werkzeugschuppen steht und leise vor sich hin pfeifend alte Zangen und Schraubenschlüssel putzt, dass er verbogene Nägel wieder gerade biegt und rostigen Draht zusammenrollt. Er hat, ganz im Geist der Gründer der Alten Pension, vom eigenen Heim auf der Insel geträumt. Aber sein Eigen ist es nie geworden. Erst nach den Ferien gehört es ihm wieder allein. Er bleibt am längsten, bis der Winter kommt und es kalt wird. In der Alten Pension trifft man seit Jahren und für viele Wochen aufeinander, da begannen einige, einander argwöhnisch zu beobachten, Parteien zu bilden, Grüppchen abzuspalten, und selten ist es so wie am 15. August, dem Tag der Heiligen Jungfrau, wenn die unzähligen Marias Griechenlands ihren Namenstag feiern und sich auch in der Pension fast wieder alle Bewohner zum Feiern versammeln, weil man allein hier 14 Marias zählt, junge und alte. Sie essen und trinken und tanzen zur Musik aus dem Kassettenrecorder – fast so, wie es sich die alten Bauherren einmal vorgestellt hatten. 

 40 Jahre ist es her, da sprangen sie zum ersten Mal ins leere, augustwarme Wasser der Bucht. Die Bucht gehörte den Gästen der Alten Pension. Jetzt gehört sie jedem. Im Sommer hocken die griechischen Frauen in Halbkreisen wie die Champignons im seichten Gewässer und reden über Geld und Männer, bis die Haut aufweicht. Junggriechen schleudern kräftig Bälle durch die Luft, weiter hinten fahren sie Wasserski und baumeln an Schirmen. Vielköpfige Familien drängen sich lautstark unter die bunten Tupfer der Sonnenschirme, und an der Strandbar nuckeln gelassene Beobachter an Cocktails oder trinken Bier, benannt nach Alexis Sorbas, der eigentlich ein treuer Freund des Rotweins war. Die Dinge haben sich verändert und die Besucher in der Alten Pension auch. Es sind längst die Kinder und die Enkelkinder der Gründer, die ihre Ferien hier verbringen. Die Enkelkinder halten sich die Nase zu und springen von der kleinen Mole ins Wasser, sie bauen aus Schilf ein kleines Theater. Vielleicht werden sie eines Tages sagen: Das war die schönste Zeit meines Lebens. 
 Von den sechs Alten kommt heute keiner mehr. Diejenigen, die noch leben, stört der viele Trubel. Über die Straße, die sie einst in den Wald schlugen, rollt der Fremdenverkehr. Und schon überlegen die Erben der Alten Pension, die Straße wieder sperren zu lassen, damit nicht jeder bis an den Strand fährt. 

 So ist alles ganz anders geworden als damals, als die Strände noch voller Muscheln und menschenleer waren und noch niemand das kleine Tal von Tripiti kannte. Inzwischen sind mehrere Hotels in das Tal hineingewachsen, sie haben Swimmingpools und laute Live-Musik am Abend. Weiter oben hängt eine Apartmentanlage am steilen Hang, die mit ihren versetzten Wohnwaben an deutsche Eigenheimanlagen erinnert. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird es ein kleines Geschäft geben mit Eis und Schwimmmatratzen. Und ganz unten, schon im breiten marmorweißen Sandstreifen, da, wohin sich die sechs Alten aus Respekt vor der Schönheit mit ihrem Haus niemals gewagt hätten, da verrät eine lange, lange Betonmauer ein Bauvorhaben, das vielleicht schon im nächsten Jahr aus dem Paradies eine belanglose Seite in einem Reisekatalog machen wird.  

Die Zeit - 2005
© Hans W. Korfmann

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