Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Am Berliner Bosporus

Aldi , Penny, Knüllerkiste, Dönerbuden, Barbiere, Bäcker und Fleischer, die ganze Schafe verkaufen. Nicht die Oranienstraße, sondern der Kottbusser Damm ist der Melting Pot Berlins. Ein Stadtspaziergang.

Von Hans W. Korfmann

Am Hermannplatz ist die Welt noch in Ordnung. Als strenges Rechteck, praktisch und wenig bescheiden, flankiert das Karstadtgebäude eine Seite des Platzes. Eilige Einkäufer strömen nach Feierabend durch die gläsernen Türen, Menschentrauben warten gesittet vor den Bushaltestellen, im Hintergrund wehen die Fahnen des Bauhauses. Der Berliner Herrmannplatz sieht aus wie alle Plätze, er könnte ebenso gut in Köln oder Frankfurt liegen, wäre da nicht der kleine Laden von Kazim Izmailcebi. Seit 30 Jahren hängen seine Trommeln und Bambusflöten von der Decke, die dickbäuchigen Saz und die Bündel der Fingerzimbeln für Bauchtänzerinnen. Mit den Naturschwämmen vor der Tür und den silbernen Teekannen im Schaufenster könnte er einer dieser zahllosen Souvenirläden irgendwo im Bazar von Istanbul sein, mit dieser seltsamen Mischung aus Kitsch und Kultur, die man belächeln und bestaunen kann, an der man jedoch nie vorübergeht, ohne einen Blick darauf zu werfen.
Der Laden von Izmailcebi scheint nur ein winziges, verlorenes Stück Orient im Okzident zu sein. Doch er ist gewissermaßen die Eingangstür: Schon wenige Meter vom Hermannplatz entfernt verliert sich die strenge Ordnung des Rechtecks und der langen Geraden in orientalischem Großstadtgewusel, scheint der Kottbusser Damm mitten in die Türkei zu führen. Die deutsche Straßenverkehrsordnung mit ihrem Rechtsverkehr auf den Gehwegen gilt nicht mehr, der Fußgänger läuft rechts und links und in der Mitte, er windet sich durch Gebirge von Tomaten und Zuchini, Trauben und Kürbissen, Orangen und Birnen. Er weicht Scharen rollerfahrender Kinder aus, manövriert vorsichtig um aufgeregt plappernde Gruppen von Müttern und bedeutungsvoll diskutierende Männer herum, stolpert über Bettlerinnen auf dem Boden und leere Obstkisten, die an der Häuserwand und im Straßengraben aufgestapelt sind.
„ Also, so was gibt es bei uns aber nicht!“, beschwert sich ein Mann, der gerade von der Rolltreppe der U-Bahn steigt. „Hier kommt man ja überhaupt nicht mehr durch!“ Der Mann möchte, dass der Händler seinen Stand um einen Meter weiter nach rechts räumt, und droht mit der Polizei. Aber der Obstverkäufer grinst: „Ach, wissen Se, ick bin schon seit 30 Jahren hier in Kreuzberg, und wenn’s das bei Ihnen zuhaus nicht gibt, da kann ick doch nischt dafür!“ Der Fremde aus der U-Bahn ist an einen Deutschen geraten, und nach 30 Jahren auf dieser Straße gibt es nicht mehr viel, das ihn aus der Ruhe bringt. „Eigentlich schade, dass es das bei Ihnen nicht gibt!“, sagt er zum Fremden und sortiert weiter seine Bananen.
Er ist der letzte deutsche Obstverkäufer am Kottbusser Damm. Ansonsten sind Frucht und Gemüse seit langem in türkischer Hand. Morgens um fünf oder um sechs kommen sie mit ihren Kleinsttransportern vom Fruchtmarkt in der Beusselstraße, häufen Berge gigantischer Kohlköpfe, Berge von Orangen auf ihre wackligen Auslagen, je höher, je besser. Als sei es ein Volkssport und ein Vergnügen, dabei ist es Berechnung. Je höher die Fruchtberge, desto weiter sind sie sichtbar. Schließlich geht es am Kottbusser Damm nur ums Geld, ums Überleben.
Hier gibt es keine gemütlichen Spaziergänger und Großstadtflaneure, keine netten Cafés zum Sitzen und Zuschauen. Es gibt Döner und Börek, zum Stillen des Hungers im Stehen und Gehen, und am Ende der Straße hält eine Würstchenbude mit Dampfwurst und Kartoffelpuffern einsam die deutsche Stellung. Vor zwei Jahren gab es gegenüber noch ein deutsches Kaufhaus. Jetzt ist heißt es „Adese“ und ist ein türkisches Kaufhaus mit großer Lebensmittelabteilung und Rolltreppe und türkischen Kassiererinnen. Doch hat es sich auch unter deutschen Hausfrauen herumgesprochen, dass ein Einkauf im „Adese“ besser ist für die Geldbörse als einer bei Karstadt, und seit es neben Käse, Yoghurt und Knoblauchwürsten auch deutsche Butter und deutschen Kaffee gibt, und seit die jungen Türkinnen netter lächeln und netter Deutsch sprechen als so manche Berliner Schnauze, sind auch Kreuzberger Großmütter zu den türkischen Läden konvertiert.
Nicht der berühmte Karneval der Kulturen, nicht Loveparade oder Oranienstraße, sondern der Kottbusser Damm ist der Melting Pot Berlins. Er ist laut und unübersichtlich, mit Penny, Aldi und Knüllerkiste, mit türkischen Barbieren, Bäckern und Fleischern, die ganze Schafe für zwei Euro das Kilo verkaufen, Kutteln, Pansen und Hoden. Er ist ungeschmückt und prosaisch, die Idylle des orientalischen Märchens fehlt. Der Teppichhändler verkauft keine orientalischen Teppiche, sondern Fußbodenbeläge, PVC und Wandfarben. In der Auslage der türkischen Buchhandlung wirbt ein Koch mit weißer Haube und schwarzem Schnauzer für die Küche des Orients, am Eingang aber liegt Harry Potter auf türkisch, daneben wieder bemüht sich *Das Wesen des Islam* um Verständnis – in deutscher Sprache. Für die weibliche Leserschaft stehen Liebesromane im Regal, auf deren Cover blonde Frauen ganz unorientalisch mit nackten Schultern und sehnsüchtigen Blicken wahrscheinlich auch die männliche Leserschaft betören sollen.
Vom Kopf bis zu den Füßen allerdings hüllen Brautkleider die seltsam blassen Schaufensterpuppen der türkischen Modegeschäfte ein, pompöse Kreationen, Wunder aus strahlend weißem Stoff, aufwändig bestickt mit Gold und winzigen Stoffrosen, für einen Preis von 500 Euro. Ergänzt wird die traumhafte Garderobe durch wallende Gewänder aus schimmernder Seide, dunkelrot, hellrosa oder azurblau, Abendkleider, die gar nicht passen zu dieser Straße mit den glotzenden Schafsköpfen in den Vitrinen der Metzger und dem ewigen Kohl der Gemüsehändler. So wenig wie die Auslagen der Juweliere, in denen alles Gold ist, was glänzt, und die neben dicken Siegelringen für den Herrn und Filigrankettchen für die Dame längst auch christliche Kreuze in ihrem Sortiment haben.
Die Buchhändler und Juweliere hoffen – wie die Kollegen in den Straßen von Istanbul auch – Geschäfte zu machen mit den Fremden. Doch die Scharen der Touristen sind bislang ausgeblieben, die Routen der Sightseeingbusse meiden das Gedränge des Kottbusser Damms. Auf ihrer Tour durch Kreuzberg kommen sie an den renovierten Fassaden des Chamissokiezes vorbei, Klein-Wien in Berlin, mit gemütlichen Kneipen und alten Gaslaternen. Oder sie durchfahren die saubere Bergmannstraße mit ihrem durchgestylten Multikultiambiente aus Boutiquen und Cafés und einem Hauch von Exotik. Allenfalls wagen sie einen Abstecher in die Oranienstraße, werfen im Vorüberfahren einen Blick in die Adalbertstraße, legendenschwere Namen aus den 70er Jahren. Doch in der Regel ist Klein-Istanbul, wie die Berliner die Gegend ums Kottbusser Tor halb liebevoll, halb argwöhnisch nennen, den Besuchern der Hauptstadt keinen Besuch wert.
Obwohl hier, wie die Leute vom „Kotti“ nicht müde werden zu erzählen, die größte türkische Stadt auf dem europäischen Kontinent liegen soll – von jenem Teil Istanbuls, der diesseits des Bosporus liegt, einmal abgesehen. Und obwohl dieser nördlichste Zipfel Kreuzbergs mit seiner Hochbahnstation, den türkischen Banken, türkischen Ärzten und Anwaltspraxen, türkischen Reisebüros und Schulen, der Moschee mit den bunten Glasklinkern im Innern der gewaltigen Zementburg, die man nach dem Krieg am ehemaligen Stadttor in die Brache setzte, so viel Geschichte geschrieben, so viel zu erzählen hat. Hier war es, wo die türkischen Arbeiter in den 60er Jahren eintrafen. Sie hielten sich nicht lange auf am Bahnhof Zoo, wenn sie aus den Fernzügen stiegen, sie nahmen unverzüglich die Linie 1, die im schnodderigen Volksmund schon bald „Orientexpress“ hieß, und fuhren geradewegs zum Kottbusser Tor. Dorthin, wo schon einige von ihnen waren, wo Türkisch keine ganz so fremde Sprache mehr war.
Innerhalb der ersten zehn Jahre stieg ihre Zahl von 225 auf beinahe 40 000. Heute spricht man im „Quartiersmanagment Kottbusser Tor“ von 80 Prozent Nichtdeutschen im Viertel um die U-Bahnstation, der größte Teil von ihnen spricht Türkisch. Und wer abends in die Seitenstraßen schaut und die Männer in den Cafés an den Tischen sitzen sieht, im Licht der Neonlampen über ihren Kartenfächer gebeugt, umhüllt von den dichten Nebeln ihrer starken Orienttabacke, das Glas Tee neben sich, der ahnt, dass es nur zwei Schritte sind in eine andere Welt. Und scheut den Zutritt.
Doch der Kottbusser Damm taugt nicht als Touristenattraktion. Er riecht nach faulendem Gemüse und glühenden Auspuffen, nach Urin in den Ecken und schlechten Zigaretten. Nur der Markt am Ende der langen Gerade erfüllt die Erwartungen der Touristen, einst der „Türkenmarkt“ schlechthin, einst der einzige. Heute gibt es viele Märkte, doch der am Maybachufer ist der bunteste und der lauteste, nirgendwo drängen sich so viele Menschen unter den Planen der Stände am Ufer des Kanals entlang. Hier findet der Mensch, was er zum Leben braucht, und was er nicht braucht. „Wieviel sind denn da drinne?“, fragt ein beleibter Deutscher den türkischen Verkäufer. „Zwölf Stück!“ – „Und was kosten die?“ – „Acht Euro“. Der Mann kratzt sich den Schädel, er macht den Eindruck, als löse er eine schwierige mathematische Aufgabe. Dann leuchten seine Augen auf: „Haben Sie noch eine Packung?“ – „Nein, nur noch die eine!“, antwortet schnell der Verkäufer. Er ahnt, dass acht Euro für zwölf lange Baumwollunterhosen für einen Mann mit diesem Leibesumfang viel zu günstig sind, und wird am nächsten Tag den Preis erhöhen.
Ein paar Meter weiter streiten zwei japanische Frauen um ein Kilo Gurken im Gegenwert von 50 Cent. Sie behaupten, schon bezahlt zu haben, aber der Gurkenverkäufer hält hartnäckig die Hand auf und schüttelt den Kopf. Es geht nicht um die 50 Cent, es geht um die Ehre eines Gurkenverkäufers. „Das ist kein leichter Job hier!“, sagt Serdar, „man braucht vier Hände, und Augen überall, vorne, hinten, oben, unten. Das ist hier schlimmer als in der Türkei!“ Auch die türkischen Frauen fühlen sich am Maybachufer in ihrem Element. Minutenlang reden sie auf den Verkäufer ein, der sich hinter seinen buntbedruckten Stoffrollen verbarrikadiert, die Arme verschränkt und sagt: „Keinen Cent weniger!“ Sie probieren Fingerhüte, testen die Reißfestigkeit der Fäden auf den großen Zwirnrollen, begutachten die angeblichen „Restposten aus Paris“. Sie werfen unverholene Blicke auf die Tangas, fünf Gramm für einen Euro, auf bunte Kopftücher, perlenbestickte Bordüren, gehäkelte Deckchen und Gardinen und die gewaltigen Kubusse spitzenverzierter Büstenhalter – und ziehen am Ende doch wieder weiter. Nur eines kaufen sie immer, und immer in großen Mengen: Petersilie. Und Fisch beim „Fischkunze“, diesem Deutschen, der nur Mittelmeerfische und nur türkische Verkäufer hat, die in Windeseile die Schuppen von Dorade, Bonito, Wolfsbarsch und Barben raspeln. Die Fische sind erst heute Morgen mit dem Flugzeug angekommen, ihre Augen glänzen, als könnte man sie gleich wieder schwimmen lassen.
Auch die Touristen, die sich auf den Markt verirren, haben manchmal diese glänzenden Augen. Sie wollten in die Hauptstadt, dachten an den Reichstag oder die Theater und Museen, und sind plötzlich in einem anderen Land. Sie verstehen nicht mehr alles, weil auf der Straße ein babylonisches Sprachengewirr herrscht. Sie spüren, dass sie nicht dazugehören, dass sie Fremde sind, nur zu Besuch in diesem Niemandsland zwischen Orient und Okzident, dieser kleinen Welt, die sich nicht recht entscheiden kann, ob sie diesseits oder jenseits des Bosporus liegt.

Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann

zurück