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Fabers Erkenntnis, Frau Müller betreffend

Die wahre Geschichte einer merkwürdigen Wohngemeinschaft

 

  foto: © Michael Hughes
Foto: © Michael Hughes

Vier Menschen schreiten eine Wiese entlang. In Pankow, am Rand von Berlin. Dort hat man Frau Müller hingebracht, ans andere Ende der Stadt. Weil dort die Miete für die letzten Quadratmeter auf Erden günstiger ist. Der Pfarrer macht nicht viel Aufhebens, spricht einen Satz, dann legt er die Urne in eine kleine, zuvor ausgestochene Kuhle. Es ist ein ärmliches Begräbnis, nirgendwo ein Name, keine Kreuze, keine Gedenksteine, ein Friedhof der Namenlosen. Die auf dieser Wiese liegen, hinterlassen kaum Spuren. Doch einer der Wenigen, die am Grab zusammengekommen sind, um Abschied zu nehmen von Frau Müller, geht den Weg zurück ins alltägliche Leben mit großen, steifen Schritten. Er zählt sie. Um diese letzte Fährte nicht zu verlieren. Er möchte Frau Müller vielleicht einmal wieder finden.

Vierzehn Jahre hat er mit dieser Frau gelebt, in der Nähe der Potsdamer Straße. In der alten Direktorenwohnung hinter dem Schulgebäude aus der Jahrhundertwende, das immer abgerissen werden sollte und dann doch wieder stehen blieb. Ein Drittel seines Lebens teilte er sich mit ihr die Wohnung im zweiten Stock, in der sie schon ihr halbes Leben verbracht hatte. Dennoch wusste er am Ende nichts von ihr. Er wusste nichts von den Jahren nach dem Krieg und der Wohnungsnot, als das Bezirksamt Schöneberg Frau Müller die billige Wohnung auf dem Schulhof anbot. Auch nichts aus der Zeit, die sie nebeneinander gelebt hatten, vierzehn Jahre, ohne Fernsehen, ohne Radio, ohne Besuch, und ohne je mit jemandem in diesem Haus viele Worte gewechselt zu haben. Es erinnert wenig an das achtzigjährige Leben der Frau Müller.

Obwohl ihre Wohnung noch immer unberührt ist. Obwohl die Zeit in dieser Wohnung stehen blieb, alles noch so ist, wie es war an ihrem letzten Tag, einem Tag im Mai vor einem Jahr. Es ist alles noch da, was sich so anhäuft im Lauf eines halben Lebens, eines Lebens, das nach dem Krieg einen zweiten Anlauf genommen hat. Doch für die, die zurückgeblieben sind, ist ihr Nachlass Gerümpel. "Sie ist eins geworden mit ihrem Müll", sagte die Polizeibeamtin, als sie Frau Müller dort liegen sah, zwischen den umgeworfenen Kisten und Konservenbüchsen, die sie mit sich mitgerissen hat und dann doch nicht mehr mitnehmen konnte. Nach Pankow, auf die Wiese.

"Sie dürfen nichts anrühren, bis die Todesursache geklärt ist." Die Polizei war misstrauisch. Und die Presse hätte Faber an den Pranger gestellt, wenn sie das erfahren hätte: "Vierzigjähriger lebte tagelang neben toter Mitbewohnerin. Sprühte Sakrotan gegen den Leichengeruch..." Inzwischen ist der Geruch verschwunden. Auch das Schlurfen auf dem Gang hört er nicht mehr. "Das war wie eine Melodie", so ein kurzer und ein langer Ton. Nur manchmal, wenn Faber nachts aufwacht, hört er sie noch. Vielleicht wird am Ende diese Melodie übrig bleiben. Am Ende, wenn das Amtsgericht die Wohnung eines Tages freigegeben und eine Entrümpelungsfirma die letzten Spuren dieses Lebens ausgelöscht und auf dem Flohmarkt für ein bisschen Geld verkauft hat. Wenn ein anderer dort eingezogen ist.

Aber noch sucht man in ganz Deutschland nach möglichen Erben. Noch ist alles, was sich hinter dem Vorhang verbirgt, Frau Müllers unantastbares Eigentum. Faber hat das respektiert. Er ist nur drei mal drüben gewesen, seit er sie gefunden hat. Um Fenster zu öffnen und zu schließen. Auch wenn er dort vielleicht Antworten finden könnte auf die Fragen, die ihn seit dem Tod der Frau Müller beschäftigen. Noch immer ist der Vorhang im Flur für ihn die Grenze. "Wir konnten nur miteinander leben, weil wir uns gegenseitig respektiert haben. Nichts taten, was der andere nicht wollte." Es war der erste und der bedeutungsvollste der wenigen Sätze gewesen, die sie miteinander wechselten, als sich der neue Mieter Faber 1988 bei ihr vorstellte. "Ich möchte nicht, dass Sie jemals hinter den Vorhang sehen!"

 
foto: © Michael Hughesfoto: © Michael Hughes
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Faber hatte eingewilligt. Hatte die billige Wohnung genommen, auch wenn ihm der Gedanke, mit einer alten Frau auf einem gemeinsamen Flur zu wohnen, nur durch einen Vorhang getrennt, der aus einem aufgehängten Bettlaken bestand, nicht ganz geheuer war. Er hatte in Berlin die Freiheit und die Anonymität der Großstadt gesucht, er hatte genug von den kleinstädtischen Gardinen und den neugierigen Blicken. Er zog trotzdem bei Frau Müller ein. Für ein paar Monate, dachte er. Es wurden vierzehn Jahre. Frau Müller bewohnte die hinteren drei Zimmer, er die beiden vorderen. Nach dem zehnten Jahr der seltsamen Koexistenz zwinkerte sie ihm zu: "Das hätten Sie sich auch nicht gedacht, wa!"

Sonst sprachen sie nicht viel miteinander. Wenn sie sich trafen, beim Gang auf die Toilette oder wenn der eine vom Einkauf kam und der andere ging. Ihre Zimmer schlossen sie nicht ab. Es gab da einen Respekt voreinander, der bedurfte keiner Schlüssel. Nie in den vierzehn Jahren ist Faber auf die Idee gekommen, den Vorhang zur Seite zu ziehen und einen Blick in ihre Zimmer zu werfen. In der Großstadt blieb jeder für sich, unangetastet. Es verstand sich, dass sie Faber nie zu sich eingeladen hat. Auch er hatte es nur ein einziges Mal versucht, aus Anstand. Nach ihrem Tod tat ihm das plötzlich leid. Obwohl er wusste, dass sie es nicht anders gewollt hätte: Sie bestand auf ihrem Abstand. Selbst wenn sie eines Tages diesen Satz sagte: "Sie sind der netteste Mitbewohner, den ich in all den Jahren hatte."

Und das waren einige seit 1945 oder 46. Auch der Hausmeister, Karl Heinz Bozinsky, der fluchend die Schüler vom Hof jagte, wenn sie außerhalb der Pausen den Asphalt zum Kicken nutzen wollten, der olle Kalle Bozinsky, der den neuen Mieter Faber gleich am ersten Morgen mit einer Standpauke wegen des unverschlossenen Schultores begrüßte und mit dem Faber kein Wort mehr wechselte, hatte sich anfangs die Wohnung mit Frau Müller geteilt. Aber während der letzten vierzehn Jahre hat er sich nie mehr oben blicken lassen. Selbst an dem Tag, als Faber Frau Müller entdeckte und ihn anrief, fand dessen Frau nur wenige Worte: "Kalle kommt aber nich hoch!"

Hausmeister Kalle war eines der beiden Hauptthemen in den wenigen Gesprächen zwischen Faber und Frau Müller. Sie meinte es nicht sonderlich ernst, wenn sie über diesen mürrischen Hausmeister sprach, und Faber beschlich das Gefühl, dass dieser Frau Müller ein gutgelaunter Schalk im Nacken saß.

Das zweite große Thema ihrer Gespräche war ernsterer Natur: die Heizungsinstallateure. Nie hatte sich Frau Müller so gesprächig gezeigt wie in dieser Angelegenheit. Sie wollten in Frau Müllers Wohnung eindringen. Faber hörte, wie sie Tag und Nacht die Möbel verrückte, den Gang entlangschlurfte, Plastiktüten transportierte, eine emsige, nie da gewesene Rührigkeit entwickelte. Und dann, zwei Tage vor der Ankunft der Arbeiter, klopfte es nachts an Fabers Tür. Das war vor sieben Jahren. Es rieche so angebrannt bei ihr in der Wohnung, ob er einmal kommen könne.

Faber betrat ein Zimmer. Meterhoch türmten sich Berge von Blusen, Jacken, Hosen, Hüten, Kleidern und Kostümen, Wäsche in Plastiktüten und Schuhen in Pappkartons. Es blieb nur noch ein schmaler Gang zum Fenster. Faber bemerkte keinen Brandgeruch, der Ofen schien seit Jahren kalt zu sein. Frau Müller beobachtete Faber, der das kleine Bild von dem Kahn auf dem See und den Teller mit Urlaubsgrüßen betrachtete. Sie waren der einzige Wandschmuck im Raum, der einmal das gute Zimmer gewesen sein musste.

Faber sagte kein Wort über die vielen Kleider, er war freundlich und respektvoll wie immer. Frau Müller war sichtlich erleichtert. Sie hatte wirklich Glück mit diesem Faber. Einem Mitmieter, der keine neugierigen Fragen stellte. Der nicht wissen wollte, weshalb sie eigentlich das viele Holz im Flur sammle, wenn sie gar nicht heizte. Einer, der wahrscheinlich auch mit anderen nicht darüber redete, ja, vielleicht nicht einmal sich selbst diese Fragen stellte, die ihr so unangenehm waren. Aus Respekt. Weil es ihn nichts anging. Weil er sich die Neugier verboten hatte. - Und tatsächlich hatte Faber damals noch gedacht, dass das Kleiderzimmer ihre Rumpelkammer sei.

 
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Die anderen Zimmer der Frau Müller hat Faber nie gesehen. Auch nicht, als sie ein Jahr vor ihrem Tod noch einmal anklopfte, weil sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer nicht öffnen konnte. Die Klinke, die nur lose im Schloss steckte, war heruntergefallen und zwischen den vielen Zeitungsstapeln verschwunden. Faber öffnete die Tür mit einem Löffel und wandte sich ab, sobald sie sich einen Spalt weit auftat. Und Faber bemerkte, dass er diese Frau, die ein bisschen menschenscheu war wie er, die nichts wegwerfen konnte wie er, die jeden Morgen einkaufen ging und nachmittags mit ihren Plastiktüten heimkam, die er manchmal auf einer Bank auf dem Spielplatz sitzen und Zeitung lesen sah, die andere Mieter manchmal schick gekleidet im Café beobachtet hatten, die im Flur so akkurat das Holz stapelte und die Milchtüten so praktisch zusammenfalten konnte - dass er diese Frau mehr achtete als etwa den ollen Hausmeister Kalle oder die Chaoten von der WG im 1. Stock.

Seine Achtung ging so weit, dass er sich auch dann nicht gestattete, über sie nachzudenken, als die Melodie ihres Schlurfens einige Tage ausblieb. Faber fuhr für eine Woche nach Wien. Als er am Freitag vor Pfingsten zurückkehrte und die Tür öffnete und ihm dieser unangenehme Geruch entgegenkam, dachte er nur eines: "Mensch, Frau Müller, räum doch endlich mal die alten Milchtüten aus dem Flur!" Er dachte das ein wenig ärgerlich, aber auch mit jener freundlichen Nachlässigkeit, die langjährige Lebenspartner füreinander entwickeln. Jener Nachlässigkeit, die das Gegenteil von Aufmerksamkeit ist, eher eine sich langsam einschleichende Unaufmerksamkeit. Weil alles schon so lange ist, wie es ist, das morgendliche Schlurfen, der Geruch, das Holz und die Milchtüten im Flur. Faber kam gar nicht auf den Gedanken, dass sich etwas Grundlegendes verändert haben könnte in seinem oder ihrem Leben. Also sprühte er mit Sakrotan.

Faber hatte sich bis zuletzt an ihre Abmachung gehalten. "Ich möchte nicht, dass Sie jemals hinter den Vorhang schauen!" Also hatte er die Augen zusammengekniffen, hatte keine Fragen gestellt, und also war er tatsächlich überrascht, als er am Mittwoch nach Pfingsten den verbotenen Schritt wagte, den Vorhang beiseiteschob und sah, dass Frau Müller seit vielen Tagen tot war. Also wunderte er sich, dass ihre Wohnung ein einziges Lager war, ein bis unter die Decke voll gestopfter Ramschladen, ein Nest aus Tausenden von Kleidern, die sie in Alditüten nach Hause getragen hatte. Bis zuletzt hatte sie an diesem Nest gebaut, emsig, wie die Vögel im Frühjahr. Am Ende war ihr noch eine winzige Schlafecke geblieben zwischen all ihren Schätzen, zwischen Rüschenkleidern, Handtaschen, Stoffballen, Wollknäueln, ein letzter Winkel mit einem alten Bett und einer Matratze, aus der die Federn stachen.

Faber stand da und betrachtete das aufgestapelte Holz, zählte zwölf Gehstöcke, 16 neue Töpfe neben einer einzigen verrosteten Elektroherdplatte, Kartoffelknödel aus dem Jahr 1980, Sunlicht-Seife auf dem Nachttisch, auf deren verblichener Verpackung sie mit Kugelschreiber 1963 geschrieben hatte, den Kalender von 1973 und das Schreiben des Arbeitsamtes an Lucie Müller, "Betrifft ABM-Stelle", 1973, auch Zeitungen aus diesem Jahr. In diesem Jahr muss etwas passiert sein, dachte sich Faber, da lag eine Spur.

Faber wollte nicht in ihrem Leben herumschnüffeln, aber jetzt stand er da und sah die Klebebänder, die noch immer so gut klebten, dass Frau Müller sie nicht fortgeworfen, sondern in Streifen an der Schrankwand aufbewahrt hatte. Stand da und betrachtete die akkurat zusammengefalteten, sauber ausgewaschenen Milchtüten, mit denen sie die Wände isoliert hatte, erkannte die zusammengefalteten Mineralwasserkartons, deren aluminiumbeschichtete Innenseiten nach Außen gestülpt waren und als Aktenordner dienten, als Mappe für noch nicht gelöste Kreuzworträtsel, die sie mit der Schere ausgeschnitten und glatt gestrichen hatte, als Buchdeckel für ein Lexikon, das neben ihrem Bett lag, einen Opernführer und ein allmählich zerfallendes Wörterbuch aus dem Jahr 1930, Englisch-Deutsch. Bilder vom Krieg kamen Faber in den Sinn, die Amerikaner in Berlin, der kalte Winter 45/46, die jungen Frauen, die sich aus Lumpen Kleider nähten und damit tanzen gingen. Spuren.

Faber erschrak darüber, wie lange er an dem gemeinsamen Grundsatz festgehalten hatte. Er machte sich Vorwürfe, aber er verteidigte die Demarkationslinie bis über den Tod hinaus: Als Freunde eines Tages hinter den Vorhang blicken wollen, verneint er. Dann lässt er sie doch durch, "diese Ignoranten, die einfach nur reinkommen und sagen, das sei alles Müll. Dabei ist das hier eine geheime, in vierzig, fünfzig Jahren gewachsene Ordnung..." Faber ärgert sich. Faber soll schlecht ausgesehen haben, blass, wochenlang. Wie jemand, der um einen engen Verwandten trauerte. "Wir waren artverwandt, die Frau Müller und ich", sagt Faber und nickt. "Das wurde mir bei ihrem Tod schlagartig bewusst!"

Und da bekam Faber es plötzlich mit der Angst zu tun. Er begann in Panik, seine Wohnung aufzuräumen. Warf Dinge fort, von denen er sich 14 Jahre nicht hatte trennen können. Und Faber blieb plötzlich stehen im Schulhof. Er, der Einzelgänger, er, der aus der neugierigen Kleinstadt in die Anonymität der Großstadt geflüchtet war. Blieb stehen, um sich zu unterhalten. Mit der Frau vom Schülerladen, mit den chaotischen Mietern aus der WG im ersten Stock, sogar mit dem Hausmeister Kalle ist er ins Gespräch gekommen. Faber hatte eine Erkenntnis.

Drei Männer und eine Frau gehen über eine Wiese in Pankow. Sie wohnen alle im selben Haus, aber sie haben nie viel miteinander zu tun gehabt. Nachher werden sie sich zum ersten Mal gemeinsam an einen Tisch setzen, zum Leichenschmaus. Was sie jetzt wohl für ein Bild abgeben, denkt Herr Faber, "diese vier Männecken, die da die Wiese hinter dem Kasper mit der Urne herlaufen, auf einer Wiese, wo nach ein paar Tagen niemand mehr weiß, wo liegt die jetzt eigentlich, wie hieß die eigentlich. Es muss ein jämmerliches Schauspiel sein! Aber ich glaube, Frau Müller hätte das gefallen - wenn sie uns hätte sehen können. Oder wenn sie uns gesehen hat, wer weiß, da auf der Wiese."

Vielleicht hat sie sogar gekichert da oben, als sie sah, wie Faber plötzlich alles aufzuräumen begann. Wie er jetzt immer unten saß in der WG und Kaffee trank, und wie der olle Kalle Bozinksy am Tag nach ihrer Beerdigung am Schultor auf Faber wartete und ihm die Hand auf die Schulter legte, zehn Meter lang neben ihm herlief mit der Hand auf der Schulter! Wie sie, die alte Lucie Müller, plötzlich alles verändert hat in dem Haus auf dem Schulhof. Jetzt, wo sie auf dem Friedhof der Namenlosen lag.

Frankfurter Rundschau - 2002
© Hans W. Korfmann

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