Und Ingo bleibt
Der Traum vom goldnen, goldnen Westen
Von Hans W. Korfmann
Es ist kalt. Minus fünf Grad. Er hat die lederne Mütze etwas tiefer ins
Gesicht gezogen als an anderen Tagen. Unter den ledernen
Mantelärmeln sieht man die Tätowierungen, und der rote struppige
Bart ist zerzaust vom Wind und vom Wetter. Ingo Burghardt kommt
von der See, von der stürmischen Ostsee. Seine Kindheit hat er in
einem kleinen Ort namens Rerik verbracht, und draußen auf dem
Meer lag "die Russeninsel". Da durften sie nicht drauf, die Kinder von
Rerik, denn auf Wustrow waren die Panzer der Russen, das war
fremdes Territorium. Deshalb wollten sie auch immer alle dorthin: "Auf die Insel!"
Auch in den Westen wollten sie alle. Die Kinder aus dem Heim in
Rerik. In den "goldnen, goldnen Westen". Ingo hat es geschafft. 1984
oder 1985, so genau weiß er das nicht mehr. Auf einer Insel lebt er
jetzt auch. Mitten in der Stadt, mitten in Berlin, auf einer einsamen
Verkehrsinsel unter dem Stahlgerüst der Linie 1. Seit fünfzehn,
sechzehn Jahren, so genau weiß er das nicht mehr. Mit den Tauben
und den Mäusen. Die Tauben ärgern ihn manchmal, wenn sie nachts
auf seinem Bauch herumspazieren. Aber die Mäuse sind praktisch.
Wegen der Mäuselöcher. Es gibt ja keine Toilette hier auf dem Eiland,
in der Mitte des Kreisverkehrs. Und Ingo ist ein reinlicher Mensch.
Besucher kommen selten, es gibt keine Brücke, keinen
Zebrastreifen, Ingo hat seine Ruhe dort auf seiner Insel. Seine Ruhe
und drei Matratzen, drei Decken, ein paar Kopfkissen und immer ein
bisschen Tabak in der Tasche. Sein Bart ist zerzaust vom Wind, der
unter der Brücke durchpfeift. "Nur manchmal kommt einer rüber und
füttert die Tauben. Wenn der Sack mit dem Futter leer ist, dann ruft
er irgendwo an, und dann bringen sie einen neuen Sack."
Sonst kommt niemand. Richtige Kumpel hat er eigentlich keine
gefunden im Westen. "Deshalb steh' ich ja auch immer allein da vor
der Möbeloase." Er kennt kaum jemanden, aber die meisten kennen
ihn. Weil er immer da steht. "Wer mich nicht kennt, der ist neu in
Berlin", sagt Ingo. Nicht ohne Stolz. Er war schließlich schon im
Fernsehen, "haben sie mir erzählt", und in den Zeitungen. "Die
kommen immer und fragen, was ich mache und wovon ich lebe, und
dann sind sie schon wieder weg."
Es ist ja auch nicht viel, was Ingos Biografie hergibt. Auf den
flüchtigen Blick Die Kinder- und Jugendjahre im Heim in Rerik, der
Knast in Cottbus und jetzt sein Obdach unter der Brücke am Kotti. "Gerade mal drei Stationen." Naja, und zwischendurch war er einmal
verheiratet gewesen. Ein, zwei Jahre, so genau weiß er das nicht
mehr. Und hatte eine eigene Wohnung, in der Görlitzer Straße, "einen
Hund und Fische". Ingo lächelt. Aber dann kam er darauf, dass seine
Frau sich das Geld, das er bei der Abrissfirma verdiente, in die Venen
pumpte. Und dann ging die Firma Pleite. Und dann flogen sie aus der
Wohnung raus. Und dann hat er sich scheiden lassen. Seitdem wohnt
er unter der Brücke.
Zuerst wollten sie ihn dort weghaben. In einem Polizeiauto brachten
sie ihn aus der Stadt und setzten ihn im Wald aus. "Wie ein Tier." Aber Ingo kehrte um, fand einen leeren Einkaufswagen, warf sein
Bündel hinein und wanderte bis zum Abend. Bis zum Kottbusser Tor.
Da gehört er hin. Das haben dann auch die Polizisten verstanden. "Die haben kapiert, dass ich nicht aufgebe." Auch die im Gefängnis hatten das kapiert. Sie wussten, dass dieser
Ingo, kaum würden sie ihn laufen lassen, gleich wieder
losmarschieren würde. In seinen "goldnen, goldnen Westen", von
dem sie schon im Kinderheim alle gesprochen hatten. Also haben
auch sie ihn, nach fünfzehn Jahren in Cottbus und "in einer
schwarzen Pumpe", in ein Auto gesetzt und abtransportiert. Über die
Grenze gefahren. Nach Westdeutschland. "Fünfzehn Jahre Knast." Ingo krempelt die Ärmel hoch, zeigt die tätowierten Unterarme. "Wegen Republikflucht." Sogar auf seinen Augenlidern schimmert es
blau, als trüge er einen Lidschatten. "Tätowiert, überall, bis zum
Bauchnabel. Denn wer nicht tätowiert war, der war auch nicht im
Zuchthaus. Und darum haben wir Gummisohlen verbrannt und den
Ruß aufgefangen. Und damit tätowiert. Man will ja nicht umsonst im
Knast gewesen sein!" Auch das haben die beiden Polizisten am Kotti
verstanden: dass das alles zu viel war für so ein Menschenleben. Und
ihm eine Zigarette angeboten.
Inzwischen kennen ihn die Polizisten vom Kotti, auch die von den
Geschäften und den Kneipen und den Mietshäusern rundherum. Ingo
fühlt sich geborgen da unter dem windigen Stahlgerüst der Brücke,
fast so wie damals im Kinderheim. Wenn einer, irgendein Neuer, der
sich hier noch nicht auskennt, ihn beschimpft oder "Penner" nennt
und wenn Ingo dann mit den Krücken droht, dann kommt gleich einer
gelaufen und scheucht den Neuen fort. Und Ingo bleibt.
Sogar eine Wohnung wollten sie ihm schon besorgen. Sich um die
Papiere, um Sozialhilfe kümmern. Um einen Ausweis, denn Ingo hat
seinen längst weggeworfen. Aber er will in keine Wohnung. "Vier
Wände, das ist wie ein Gefängnis. Ich bin ein Naturmensch." Ingo
kommt vom Meer. Er hat auch einmal im Wald gearbeitet. Damals,
ein paar Monate, nach dem Kinderheim Hart gearbeitet, für richtigen
Lohn. Sie schliefen in einem Bauwagen zwischen den Bäumen, saßen
am Holzofen. "Und draußen waren die Tiere und so. Rehe! Ich liebe
Tiere. Mehr als die Menschen. Die tun einem nichts."
Trotzdem wollte er eines Tages fort von dort. In den Westen.
Achtzehn oder Neunzehn war er, er weiß es nicht mehr so genau,
aber er war einer von der Ostsee, er konnte schwimmen. In der Mitte
der Elbe haben sie ihn dann aufgegriffen und mit dem Auto gleich ins
Gefängnis gebracht. Sie haben ihn nicht geschlagen im Gefängnis.
Nie. Ingo ist gut erzogen. Er hat seine Kindheit nicht umsonst im
Heim verbracht. Noch heute wirft er keine leeren Flaschen fort. "So
was gehört sich nicht." Und wenn er am Stand des türkischen
Gemüsehändlers vorbeikommt und dann diese Bananen so akkurat
dort liegen sieht, dann fragt er. "Andere nehmen sich einfach eine.
Aber ich frage, wie es sich gehört."
Er ist ein ordentlicher, ein sauberer Mensch, er geht jeden Tag zur
Tankstelle, um sich zu waschen, und die von der Tankstelle geben
ihm jeden Tag den Schlüssel. Ingo ist gut erzogen. Und wenn Ingo
heute zum Beweis seiner Reinlichkeit die Handflächen umdreht, dann
sieht man einen Moment lang den kleinen Jungen und neben ihm
noch zwanzig andere kleine Jungen, die alle ihre Hände umdrehen.
"Aber schön", sagt Ingo, "schön war das trotzdem. Damals, im
Heim."
Natürlich haben sie damals im Heim auch heimlich geraucht, und
heimlich ihr erstes Bier getrunken. Das hat er sich bis heute nicht
mehr abgewöhnen können. Nur, dass aus den runden Bierflaschen
flache Schnapsfläschchen geworden sind. Aber noch heute kommt es
vor, dass er sich vorsichtig umschaut, bevor er die Flasche aus dem
Mantel holt. Obwohl doch alle, die ihn kennen, wissen, dass er trinkt,
und obwohl sie ihm ab und zu auch eine Büchse Bier in die Hand
drücken, "damit du wieder nüchtern wirst".
Wenn einmal niemand kommt und eine Büchse spendet, dann macht
er "Kontrolle". Zieht an den Abfalleimern entlang, wo in den
blechernen Büchsen noch Reste von Bier schwappen, oder er geht
zur "Roten Rose", wo schon mal ein halber Flachmann im Fenster
stand. Zu essen findet sich auch immer etwas am Kotti. Mehrmals in
der Woche kommt die Suppenküche, und die Gemüsehändler haben
am Abend auch etwas übrig für den Ingo vom Kotti Nein, die Leute
sind nett hier. Ingo fühlt sich wohl hier. Auch wenn es nicht der
goldne, goldne Westen geworden ist. Er ist nichts Besseres gewohnt.
Und nein, Ingo will in keine Wohnung mehr, Ingo hat früher
Westernromane gelesen, er schläft gern unter freiem Himmel, oder
unter der Brücke der U 1. Nach der Wende, da hat er es ja noch
einmal probiert mit dem Dach über dem Kopf. Da ist er noch einmal
zurückgefahren, an die Ostsee, nach Rerik und nach Neubukow, wo
die Großeltern ein Haus hatten, er weiß nicht mehr genau, wann das
war, gleich 1990 oder doch erst 1991? Aber die Adresse, die weiß er
noch genau: Wismaer Straße 38. Ein großes Haus war da, mit Tieren
und Ställen, und Tiere, die mag er. "Da bin ich ja sozusagen groß geworden", sagt Ingo und meint damit die paar Tage in den Ferien, in
denen die Heimkinder heimdurften. Dann kam Ingo zu seinen
Großeltern. Die richtigen Eltern hat er nie gesehen. "Keene Ahnung,
aber gegeben haben muss es sie ja wohl", sagt er.
Jedenfalls ist Ingo noch einmal dieses Haus in den Sinn gekommen
und dass es außer einem Cousin niemanden gab, der dieses Erbe
antreten könnte. Doch dann stand in der Tür der Bürgermeister von
Neubuckow, und der Bürgermeister sagte, das Haus gehöre jetzt der
Gemeinde, er solle mal wieder in seinen goldnen, goldnen Westen
zurückgehen.
Also ging er wieder. Zurück zum Kotti. Wo hätte er auch hingesollt.
Nach dieser Vergangenheit, nach siebzehn Jahren im Heim und
fünfzehn Jahren im Zuchthaus. Und all den Jahren am Kotti. Und den
paar Monaten im Krankenhaus am Urban, wo sie sein Bein wieder
zusammenflickten, weil ihn ein Auto erwischte, als er auf seine Insel
zurückwollte. Tagelang war er bewusstlos, und als er aufwachte, da
dachte er: "Na, wo bin ich denn jetzt? Ist das ein Hotel oder was?" Es
war eine schöne Zeit im Krankenhaus, Frühstück, nette Leute, und im
Gang konnte man rauchen und heimlich was trinken. "Aber das Heim
im Rerik, das war noch das Schönste gewesen. Ich weiß gar nicht,
warum ich da weg bin." Sagt Ingo und dreht sich aus den
Tabakresten in der zerknüllten Packung eine letzte Zigarette. Als sie
endlich brennt, sagt er noch: "Aber dieses Heim gibt's ja auch nicht
mehr. Hat mir jemand erzählt. Schade! So wird es eben immer
weniger - im Leben..."
Ingo jedenfalls wird hier bleiben. Solange es geht. "Es ist gut hier."
Ingo ist bescheiden geworden im Lauf seiner 48 Jahre. Er ist kein
Rebell. Und er ist gut erzogen. Alles, was er sich wünscht, ist, dass
sie ihm "einen Tag vorher Bescheid sagen, wenn ich hier weg muss.
Wenn sie hier wirklich den Aufzug für die U-Bahn hinbauen wollen."
Genau an die Stelle, wo jetzt sein Bett steht.
Frankfurter Rundschau - 2003
© Hans W. Korfmann
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