Zwischen Literatur & Journalismus Die Menschen StadtReportagen Reisereportagen Kolumnen, Glossen & Buchbesprechungen Hans W. Korfmann

 

Wo Paare in lauschigen Ecken verschwinden

Friedhöfe sind die letzten Oasen der Ruhe in der Großstadt, und nicht nur Hinterbliebene fühlen sich von ihnen angezogen

Fünf Tage hat die Woche. Dann soll der Bürger sich erholen. Doch wo kann er hin, der ruhesuchende Großstädter, in einer Stadt, in der ringsum das Leben tobt. Wo die Menschen in den Parkanlagen in rasantem Lauf riesige Drachen hinter sich herziehen oder Modellautos mit lautem Getöse über die Wege fernlenken. Auch der Wald ist kein Ort der Besinnung mehr, sondern eine ganzjährig geöffnete Sportarena mit vorüberjagenden Edelstahlrossen und um Gesundheit ringenden Joggern. Im Herbst schwärmen Familien auf der Suche nach Pilzen durchs Unterholz, und im Winter kämpfen Skilangläufer um das Vorrecht auf den seltenen Schnee. Die Wochenenden, als der Mensch sich mit einem besinnlichen Spaziergang durch Park und Natur zufriedengab, sind Vergangenheit. Wo, fragt sich der Ruhesuchende, kann ich sein? Wo finde ich Frieden?

Nur noch auf dem Friedhof herrscht die ersehnte Ruhe. Da gießen alte Frauen die Blumen auf den Gräbern, zupfen Unkraut und pflanzen Vergißmeinnicht. Keine lauten Feste wie in Schrebergartensiedlungen, keine emsigen Obstbaumbeschneider mit Motorsägen auf der wackligen Leiter. Auch wenn am Eingang zum friedlichen Hof Spaten und Schaufeln, Dünger und sogar Gartenzwerge angeboten werden, die Kreativität hält sich in Grenzen.

Zweimal in der Woche kommt Frau Engel, kettet ihre Gießkannen los und bückt sich übers Grab. Sie kommt gern an die Ruhestätte ihres Mannes, sie hat ja sonst kaum noch Wege zu erledigen. Weit hat sie es nicht, sie wohnt "gleich zwei Ecken weiter. Und so ein bißchen Bewegung muß ja auch sein". Geduldig zupft sie die störenden Halme aus dem winzigen Beet, manchmal geht ihre Hand über die Blümchen, als streiche sie jemandem durchs Haar. "Außerdem", sagt sie, "ist ja bald Totensonntag. Und wenn man will, daß es ordentlich aussieht, muß man auch etwas tun dafür!"

Wenn Egon Elend, der Friedhofsgärtner vom Friedrich Werderschen Kirchhof an der Bergmannstraße, die alten Frauen so sieht, dann grüßt er und sagt: "Na, ham sie ihm wieder mal das Bett gemacht!" So wie sie einst die Kissen geschüttelt und die Decke glattgestrichen haben, so rechen sie jetzt die erdige Krume faltenfrei. Ordnung muß sein, auch hier noch. Und manche von ihnen setzen sich nach getaner Arbeit zu ihren Männern ans Bett und lesen ihnen die Briefe aus der Verwandtschaft oder die Zeitung vor. "So geht das Leben weiter ", sagt Egon Elend und lächelt.

Doch nicht nur die Alleingelassenen kommen hierher. Auch junge Liebe sucht die Orte der Stille. Friedhofswächter, Gärtner und Polizeistreifen können ein Lied singen vom nächtlichen Leben über den Gräbern in warmen Sommernächten. Auf den Bänken im Dunkeln, den Hügeln und den kühlen Marmorplatten liegen Werden und Vergehen friedlich beieinander.

Ein beliebtes Ausflugsziel für Romantiker ist der jüdische Friedhof in Weißensee mit seinen wurzel-umschlungenen Grabsteinen, den rostzerfressenen Eisengeländern und efeuumrankten Bäumen. Ehepaare stehen still vor den Grabmalen, die wie ein versteinerter Wald unter dem dichten Blätterdach aufragen, studieren Namen und Zahlen, das wenige, das bleibt. Verliebte schlendern zwischen den meterhohen Farnen und der lianendurchwachsenen Urwaldlandschaft, junge Männer gehen schweigend Hand in Hand, Mädchen flüstern einander Geheimnisse zu. Nur wenige Schritte vom Weg entfernt verschlingt das Dickicht die auf Abwegen Wandelnden, im Winter führen Spuren im Schnee in verborgene Winkel.

Die Männer, die auf den Friedhöfen arbeiten, winken ab. "Ich bin doch kein Voyeur und verstecke mich hinterm Baum!" Horst auf dem Friedhof der Sankt Michaels Gemeinde harkt weiter das Laub von den Wegen, wenn er ein Paar in den lauschigen Ecken verschwinden sieht. Aufmerksamer wird er, wenn jemand mit Korb und Messer daherkommt. Das ist ihm kürzlich passiert. Als er zum Feierabend das Grab der Martha Nord aufsuchte, traute er seinen Augen nicht. Acht prachtvolle Exemplare hatten dort im Halbkreis gestanden. Zwei Tage wollte er ihnen noch geben. Dann zeugten nur noch die sauber abgeschnittenen Stiele von seinen Champignons.

Horst mischt die Waldfrüchte ins Omelett oder unter den Salat. Egon Elend trocknet sie lieber, "und dann komm se in die Suppe. Es gibt ja Leute, die schau n einen schief an deshalb. Oder wenn ick da Tomaten oder Gurken hab. Aber am Rand liegt eh keiner mehr!" Für Egon Elend, der in einem kleinen Haus auf dem Kreuzberger Kirchhof wohnt, ist der beseelte Acker "ein bißchen wie mein eigener Garten. Birnbäume standen schon da, als ich hier anfing, auch der Apfelbaum". Aber die Kirschen und den Nußbaum hat er gepflanzt. Und den Wein hinten an der Mauer. Da erntet er jedes Jahr, "aber eine Flasche für unseren Bürgermeister hab ich noch nicht zusammenbekommen". Auch der Quittenbaum ist von ihm. Den haben sie ihm letztes Jahr über Nacht geplündert, nicht eine Quitte war mehr drauf.

Der passionierte Obstbaumzüchter beobachtet das Treiben auf seinem Friedhof vom Küchenfenster aus seit 25 Jahren. Er sieht die Kinder, die im Herbst Kastanien sammeln kommen, und die Halbwüchsigen, die trotz der Verbotsschilder die schmalen Friedhofswege am Hang zur Teststrecke für ihre Mountainbikes machen und zwischen den Grabsteinen herumklettern. Er sieht den Malern zu, die zwischen den Bäumen ihre Staffeleien aufbauen und ganze Wochen vor einem Motiv zubringen. Und den Studenten, die bis zum Abend auf Bänken sitzen und Bücher lesen. Manchmal setzt er sich zu ihnen und hört sich einen Vortrag über die Verdauungsorgane der Regenwürmer oder die seltene Rotbuche an, die dort hinten in der Ecke steht. Oder sie erzählen von ihren Sorgen. Mathias, im sechsten Semester, hat seine Prüfung schon dreimal verschoben, jetzt muß er. "Ich konnte einfach nicht zu Hause lernen. Ständig klingelt das Telefon, oder man steht auf, macht sich was zu essen, ein Bier auf und Schluß! Dann hab ich s in der Hasenheide versucht. Fehlanzeige: Da kommen die Köter angeschnüffelt, die Fußballer treffen das Tor nicht, oder es legt sich eine Frau zwei Meter neben mir in die Sonne dann ist s aus mit der Differentialrechnung."

Da blieb nur noch der Friedrich Werdersche Kirchhof. Denn Egon Elend wacht über Ruhe und Ordnung im eingefriedeten Areal. So etwas wie in Neukölln, wo sich die jungen Leute im letzten Sommer vollkommen nackt zwischen Grabstellen gelegt hatten, gibt es bei ihm nicht. Sobald er einen Gast mit einer Decke unter dem Arm hereinspazieren sieht, ist er zur Stelle. Auch den Duft von Gegrilltem kann er sich auf seinem Friedhof nur schwer vorstellen. Egon Elend ist pietätvoll. In anderen Stadtteilen, wo Grünflächen Mangel sind, wurden an den sommerlichen Wochenenden schon des öfteren Rauchzeichen über den Friedhöfen gesichtet. Solange die Leute nicht auf den Gräbern herumtanzen, duldet die Friedhofsaufsicht die Kunden in spe und zeigt Verständnis für die Lebenden. Da die phantasievollen Berliner ihre Friedhöfe so vielseitig nutzen, denken die Bewirtschafter schon einmal darüber nach, steinerne Schachtische oder bequemere Bänke aufzustellen, um das Dasein über den Gräbern lebendiger zu gestalten. Der Friedhof soll kein düsterer Ort sein, um den man lieber einen Bogen macht. Ein gewisser Freizeitcharakter wäre auch ökonomisch sinnvoll, denn schließlich könnte doch derjenige, der schon zu Lebzeiten den Weg hierher findet, auch später hierher zurückkehren.

Doch ist man vorsichtig mit Innovationen. Denn die Freizeitgestaltung der Städter nimmt auf den fruchtbaren Böden der Kirchhöfe bisweilen extreme Züge an. Wenn zum Beispiel Jugendliche ihre wachsende Manneskraft erproben und innerhalb von drei Minuten 130 Grabsteine umwerfen, dann ist das kein Spaß mehr, dann muß schon mal die Polizei ermitteln.

Am Rande Neuköllns, beim U-Bahnhof Leinestraße, liegt der Thomaskirchhof. An seinem westlichen, vom Stacheldraht des Flughafens begrenzten Ende, zieren nur noch vereinzelt Grabstellen die Wiese. Schleichwege führen durch Löcher im Zaun zu unkrautüberwucherten und übereinandergeworfenen Marmorblöcken mit verblichenen Inschriften. An diesem entlegenen Ort treffen sich Berlins Hundebesitzer, um ihre Lieblinge zu Kampfmaschinen auszubilden. In billigen Jogginghosen stehen sie um den Ring und feuern wild gestikulierend ihre vierbeinigen Lebensbegleiter an. "Es kommt schon mal vor, daß Blut fließt dabei", sagt lapidar einer der Männer. "Manchmal bringt auch jemand eine Katze mit. Von der bleibt meistens nicht viel über." Zum Aufwärmen hecheln die Hundebesitzer ihren Tieren hinterher, bis ihnen die Zunge so weit heraushängt wie Hasso oder Tarzan. Wenn sie nicht weiter können, versuchen sie, ihre Hunde die zweimeterfünfzig hohe Friedhofsmauer hinaufzuscheuchen. Aber die Beine der Bullterrier sind zu kurz für sportliche Höchstleistungen.

"So etwas gibt es hier nicht" sagt Egon Elend entschieden. Etwas vollkommen anderes sind allerdings die medialen Großereignisse. 1973 zum Beispiel tauchte man seinen Kirchhof in gleißendes Scheinwerferlicht, und draußen standen die Leute Schlange, um einen Blick auf Romy Schneider werfen zu können. Immer wieder dienten die Gräber am Hügel der Tempelhofer Berge als Filmkulisse. Und als vor zwei Jahren Heiner Müller zu Grabe getragen wurde, rückte auch der Dorotheenstädtischen Friedhof in Mitte einmal mehr in den Mittelpunkt internationalen Interesses. Egon Elend hatte man als Verstärkung angefordert.

Inzwischen sind die Zigarrenwolken über dem Grab des Regisseurs verflogen. "Ab und zu", sagt der Gärtner vom Dorotheenstädtischen Friedhof und grinst ein bißchen, "kommt mal einer und fragt nach Heiner Müllers Grube. Dann sag ich: Mittelweg, zwischen der siebten und achten Birke."

Berliner Zeitung - 98
© Hans W. Korfmann

zurück