Wo Paare in lauschigen Ecken verschwinden
Friedhöfe sind die letzten Oasen
der Ruhe in der Großstadt, und nicht nur Hinterbliebene fühlen
sich von ihnen angezogen
Fünf Tage hat die Woche. Dann soll der Bürger
sich erholen. Doch wo kann er hin, der ruhesuchende Großstädter,
in einer Stadt, in der ringsum das Leben tobt. Wo die Menschen in
den Parkanlagen in rasantem Lauf riesige Drachen hinter sich herziehen
oder Modellautos mit lautem Getöse über die Wege fernlenken.
Auch der Wald ist kein Ort der Besinnung mehr, sondern eine ganzjährig
geöffnete Sportarena mit vorüberjagenden Edelstahlrossen
und um Gesundheit ringenden Joggern. Im Herbst schwärmen Familien
auf der Suche nach Pilzen durchs Unterholz, und im Winter kämpfen
Skilangläufer um das Vorrecht auf den seltenen Schnee. Die
Wochenenden, als der Mensch sich mit einem besinnlichen Spaziergang
durch Park und Natur zufriedengab, sind Vergangenheit. Wo, fragt
sich der Ruhesuchende, kann ich sein? Wo finde ich Frieden?
Nur noch auf dem Friedhof herrscht die ersehnte Ruhe.
Da gießen alte Frauen die Blumen auf den Gräbern, zupfen
Unkraut und pflanzen Vergißmeinnicht. Keine lauten Feste wie
in Schrebergartensiedlungen, keine emsigen Obstbaumbeschneider mit
Motorsägen auf der wackligen Leiter. Auch wenn am Eingang zum
friedlichen Hof Spaten und Schaufeln, Dünger und sogar Gartenzwerge
angeboten werden, die Kreativität hält sich in Grenzen.
Zweimal in der Woche kommt Frau Engel, kettet ihre
Gießkannen los und bückt sich übers Grab. Sie kommt
gern an die Ruhestätte ihres Mannes, sie hat ja sonst kaum
noch Wege zu erledigen. Weit hat sie es nicht, sie wohnt "gleich
zwei Ecken weiter. Und so ein bißchen Bewegung muß ja
auch sein". Geduldig zupft sie die störenden Halme aus
dem winzigen Beet, manchmal geht ihre Hand über die Blümchen,
als streiche sie jemandem durchs Haar. "Außerdem",
sagt sie, "ist ja bald Totensonntag. Und wenn man will, daß
es ordentlich aussieht, muß man auch etwas tun dafür!"
Wenn Egon Elend, der Friedhofsgärtner vom Friedrich
Werderschen Kirchhof an der Bergmannstraße, die alten Frauen
so sieht, dann grüßt er und sagt: "Na, ham sie ihm
wieder mal das Bett gemacht!" So wie sie einst die Kissen geschüttelt
und die Decke glattgestrichen haben, so rechen sie jetzt die erdige
Krume faltenfrei. Ordnung muß sein, auch hier noch. Und manche
von ihnen setzen sich nach getaner Arbeit zu ihren Männern
ans Bett und lesen ihnen die Briefe aus der Verwandtschaft oder
die Zeitung vor. "So geht das Leben weiter ", sagt Egon
Elend und lächelt.
Doch nicht nur die Alleingelassenen kommen hierher.
Auch junge Liebe sucht die Orte der Stille. Friedhofswächter,
Gärtner und Polizeistreifen können ein Lied singen vom
nächtlichen Leben über den Gräbern in warmen Sommernächten.
Auf den Bänken im Dunkeln, den Hügeln und den kühlen
Marmorplatten liegen Werden und Vergehen friedlich beieinander.
Ein beliebtes Ausflugsziel für Romantiker ist
der jüdische Friedhof in Weißensee mit seinen wurzel-umschlungenen
Grabsteinen, den rostzerfressenen Eisengeländern und efeuumrankten
Bäumen. Ehepaare stehen still vor den Grabmalen, die wie ein
versteinerter Wald unter dem dichten Blätterdach aufragen,
studieren Namen und Zahlen, das wenige, das bleibt. Verliebte schlendern
zwischen den meterhohen Farnen und der lianendurchwachsenen Urwaldlandschaft,
junge Männer gehen schweigend Hand in Hand, Mädchen flüstern
einander Geheimnisse zu. Nur wenige Schritte vom Weg entfernt verschlingt
das Dickicht die auf Abwegen Wandelnden, im Winter führen Spuren
im Schnee in verborgene Winkel.
Die Männer, die auf den Friedhöfen arbeiten,
winken ab. "Ich bin doch kein Voyeur und verstecke mich hinterm
Baum!" Horst auf dem Friedhof der Sankt Michaels Gemeinde harkt
weiter das Laub von den Wegen, wenn er ein Paar in den lauschigen
Ecken verschwinden sieht. Aufmerksamer wird er, wenn jemand mit
Korb und Messer daherkommt. Das ist ihm kürzlich passiert.
Als er zum Feierabend das Grab der Martha Nord aufsuchte, traute
er seinen Augen nicht. Acht prachtvolle Exemplare hatten dort im
Halbkreis gestanden. Zwei Tage wollte er ihnen noch geben. Dann
zeugten nur noch die sauber abgeschnittenen Stiele von seinen Champignons.
Horst mischt die Waldfrüchte ins Omelett oder
unter den Salat. Egon Elend trocknet sie lieber, "und dann
komm se in die Suppe. Es gibt ja Leute, die schau n einen schief
an deshalb. Oder wenn ick da Tomaten oder Gurken hab. Aber am Rand
liegt eh keiner mehr!" Für Egon Elend, der in einem kleinen
Haus auf dem Kreuzberger Kirchhof wohnt, ist der beseelte Acker
"ein bißchen wie mein eigener Garten. Birnbäume
standen schon da, als ich hier anfing, auch der Apfelbaum".
Aber die Kirschen und den Nußbaum hat er gepflanzt. Und den
Wein hinten an der Mauer. Da erntet er jedes Jahr, "aber eine
Flasche für unseren Bürgermeister hab ich noch nicht zusammenbekommen".
Auch der Quittenbaum ist von ihm. Den haben sie ihm letztes Jahr
über Nacht geplündert, nicht eine Quitte war mehr drauf.
Der passionierte Obstbaumzüchter beobachtet das
Treiben auf seinem Friedhof vom Küchenfenster aus seit 25 Jahren.
Er sieht die Kinder, die im Herbst Kastanien sammeln kommen, und
die Halbwüchsigen, die trotz der Verbotsschilder die schmalen
Friedhofswege am Hang zur Teststrecke für ihre Mountainbikes
machen und zwischen den Grabsteinen herumklettern. Er sieht den
Malern zu, die zwischen den Bäumen ihre Staffeleien aufbauen
und ganze Wochen vor einem Motiv zubringen. Und den Studenten, die
bis zum Abend auf Bänken sitzen und Bücher lesen. Manchmal
setzt er sich zu ihnen und hört sich einen Vortrag über
die Verdauungsorgane der Regenwürmer oder die seltene Rotbuche
an, die dort hinten in der Ecke steht. Oder sie erzählen von
ihren Sorgen. Mathias, im sechsten Semester, hat seine Prüfung
schon dreimal verschoben, jetzt muß er. "Ich konnte einfach
nicht zu Hause lernen. Ständig klingelt das Telefon, oder man
steht auf, macht sich was zu essen, ein Bier auf und Schluß!
Dann hab ich s in der Hasenheide versucht. Fehlanzeige: Da kommen
die Köter angeschnüffelt, die Fußballer treffen
das Tor nicht, oder es legt sich eine Frau zwei Meter neben mir
in die Sonne dann ist s aus mit der Differentialrechnung."
Da blieb nur noch der Friedrich Werdersche Kirchhof.
Denn Egon Elend wacht über Ruhe und Ordnung im eingefriedeten
Areal. So etwas wie in Neukölln, wo sich die jungen Leute im
letzten Sommer vollkommen nackt zwischen Grabstellen gelegt hatten,
gibt es bei ihm nicht. Sobald er einen Gast mit einer Decke unter
dem Arm hereinspazieren sieht, ist er zur Stelle. Auch den Duft
von Gegrilltem kann er sich auf seinem Friedhof nur schwer vorstellen.
Egon Elend ist pietätvoll. In anderen Stadtteilen, wo Grünflächen
Mangel sind, wurden an den sommerlichen Wochenenden schon des öfteren
Rauchzeichen über den Friedhöfen gesichtet. Solange die
Leute nicht auf den Gräbern herumtanzen, duldet die Friedhofsaufsicht
die Kunden in spe und zeigt Verständnis für die Lebenden.
Da die phantasievollen Berliner ihre Friedhöfe so vielseitig
nutzen, denken die Bewirtschafter schon einmal darüber nach,
steinerne Schachtische oder bequemere Bänke aufzustellen, um
das Dasein über den Gräbern lebendiger zu gestalten. Der
Friedhof soll kein düsterer Ort sein, um den man lieber einen
Bogen macht. Ein gewisser Freizeitcharakter wäre auch ökonomisch
sinnvoll, denn schließlich könnte doch derjenige, der
schon zu Lebzeiten den Weg hierher findet, auch später hierher
zurückkehren.
Doch ist man vorsichtig mit Innovationen. Denn die
Freizeitgestaltung der Städter nimmt auf den fruchtbaren Böden
der Kirchhöfe bisweilen extreme Züge an. Wenn zum Beispiel
Jugendliche ihre wachsende Manneskraft erproben und innerhalb von
drei Minuten 130 Grabsteine umwerfen, dann ist das kein Spaß
mehr, dann muß schon mal die Polizei ermitteln.
Am Rande Neuköllns, beim U-Bahnhof Leinestraße,
liegt der Thomaskirchhof. An seinem westlichen, vom Stacheldraht
des Flughafens begrenzten Ende, zieren nur noch vereinzelt Grabstellen
die Wiese. Schleichwege führen durch Löcher im Zaun zu
unkrautüberwucherten und übereinandergeworfenen Marmorblöcken
mit verblichenen Inschriften. An diesem entlegenen Ort treffen sich
Berlins Hundebesitzer, um ihre Lieblinge zu Kampfmaschinen auszubilden.
In billigen Jogginghosen stehen sie um den Ring und feuern wild
gestikulierend ihre vierbeinigen Lebensbegleiter an. "Es kommt
schon mal vor, daß Blut fließt dabei", sagt lapidar
einer der Männer. "Manchmal bringt auch jemand eine Katze
mit. Von der bleibt meistens nicht viel über." Zum Aufwärmen
hecheln die Hundebesitzer ihren Tieren hinterher, bis ihnen die
Zunge so weit heraushängt wie Hasso oder Tarzan. Wenn sie nicht
weiter können, versuchen sie, ihre Hunde die zweimeterfünfzig
hohe Friedhofsmauer hinaufzuscheuchen. Aber die Beine der Bullterrier
sind zu kurz für sportliche Höchstleistungen.
"So etwas gibt es hier nicht" sagt Egon
Elend entschieden. Etwas vollkommen anderes sind allerdings die
medialen Großereignisse. 1973 zum Beispiel tauchte man seinen
Kirchhof in gleißendes Scheinwerferlicht, und draußen
standen die Leute Schlange, um einen Blick auf Romy Schneider werfen
zu können. Immer wieder dienten die Gräber am Hügel
der Tempelhofer Berge als Filmkulisse. Und als vor zwei Jahren Heiner
Müller zu Grabe getragen wurde, rückte auch der Dorotheenstädtischen
Friedhof in Mitte einmal mehr in den Mittelpunkt internationalen
Interesses. Egon Elend hatte man als Verstärkung angefordert.
Inzwischen sind die Zigarrenwolken über dem Grab
des Regisseurs verflogen. "Ab und zu", sagt der Gärtner
vom Dorotheenstädtischen Friedhof und grinst ein bißchen,
"kommt mal einer und fragt nach Heiner Müllers Grube.
Dann sag ich: Mittelweg, zwischen der siebten und achten Birke."
Berliner Zeitung - 98
© Hans W. Korfmann
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