Nur der Clown lacht noch immer
Der Spreepark, mit seinen Attraktionen einst als Disneyland
des Ostens berühmt und beliebt, verkommt zusehends
Von Hans W. Korfmann Es war einmal die Vergnügungsmeile
der Berliner. Sie lag im Osten der
Stadt, nicht im Westen. Der lange Weg
entlang der Spree, mit der Anlegestelle
der "Weißen Flotte", den
Fischräuchereien, dem Rosarium, der
Sternwarte, dem Gasthaus Zenner, wo
noch heute die Musik zum Tanz spielt
wie vor dreißig Jahren, mit dem
Treptower Park, in dem noch heute das
gigantische Sowjetische Ehrendenkmal
in den Himmel ragt wie vor fünfzig
Jahren, und der Liebesinsel, von der
heute Captain Hellbourg mit seinem
knatternden Wasserflugzeug zu Rundflügen übers legendäre
Spreeathen aufsteigt. Früher wäre der alte Motor kaum zu
hören gewesen, so laut war das glückliche Geschrei durch die
Lüfte wirbelnder Kinder aus dem sozialistischen Kulturpark am
Ende der Vergnügungsmeile; bei gutem Wind war es bis nach
Neukölln, in den Westen hinein, zu hören.
Heute kreischt niemand mehr vor Vergnügen, der allmählich
vorrückende Wald droht das große Schild am Weg bald ganz zu
verschlingen, auch wenn das witzige Männchen darauf noch
immer ganz unbekümmert verkündet: "Spreepark Berlin, ein
Besuch lohnt sich immer!" Dreizehn Jahre nach dem Fall der
Mauer liegen die einst fliegenden Untertassen der bunten
Karussells hinter einem rostigen Zaun wie aus fernen Welten
bruchgelandete Flugobjekte. Noch immer lacht der Kopf einer
Clownsfigur aus einem eisernen Schrottberg hervor, grell und
farbenfroh liegen Teile der Karussells zwischen den Bäumen im
dunklen Wald. Wer heute am Maschendraht des Berliner
Praters entlanggeht und einen Blick zwischen die
zusammenrückenden Bäume wirft, blickt in die gespenstische
Kulisse eines Untergangs.
Bedrohlich und lebensgroß hat Tyrannosaurus Rex sich auf die
Hinterfüße gestellt und fletscht die Zähne, der Prontosaurus ist
vor Schreck auf die Seite gefallen und streckt die hohlen
Plastebeine in die Luft. Mammut, Elefant und Säbeltiger
scheinen sich wohl zu fühlen im menschenleeren Areal der
postsozialistischen Epoche. Auch Nessi in ihrem vom heißen
Sommer ausgetrockneten Schlammloch steht das Wasser
längst nicht mehr bis zum Hals. Ängstlich recken aus einem
Dickicht sechzehn riesige Schwäne ihre strahlend weißen Hälse
und sehen zu den Sauriern hinüber.
Scheinbar friedlich liegt das Piccadilly Village mit seinen
Blumenkästen vor den Fenstern in der künstlichen Landschaft,
doch die Geranien sind vertrocknet, die Tür des einzigen
Ladens im Dorf ist verschlossen. Die freundliche Idylle aus
kleinen Fachwerkhäuschen ist zur Geisterstadt geworden, die
heile Welt zur Realität verkommen. Auf dem Bahnsteig sprießt
das Unkraut so hoch wie in alten Westernfilmen. Ein Stück
weiter verschwinden die rostigen Geleise des Spreeblitzes,
einer Achterbahn, die einst in rasendem Tempo den Park
durchkurvte, im Maul einer gigantischen Raubtierkatze, die im
Dschungel lauert. Und auf der kleinen Insel im Teich mit dem
Riesenrad, dessen Gondeln noch immer über die Wipfel des
Plänterwaldes hinausragen, watscheln auch keine Enten mehr,
nur noch Frösche quaken im Sumpf.
Dabei hatten die Sozialisten es wieder einmal geschafft: Sie
hatten ihr dem 20. Jahrestag der DDR-Gründung geweihtes
Riesenrad drei Meter höher gebaut als das des Wiener Praters
und damit das angeblich höchste Riesenrad Europas an die
Spree gestellt. Stolz sprach der Stadtrat für Kultur, Horst
Oswald, angesichts der exorbitanten Höhe vom "VEB-Kombinat
Tiefbau", das "beim schrittweisen Aufbau unseres Berliner
Kulturparks Großes geleistet" habe. Wenige Minuten nach 14
Uhr setzte sich am 3. Oktober das Riesenrad in Bewegung, "gleichzeitig wurden die Triebwerke vieler anderer Karussells
angeworfen", schrieb die Berliner Zeitung, als handele es sich
bei der prestigeträchtigen Eröffnung des Vergnügungsparks
um den siegreichen Start einer Sojus-Rakete. Es gab die
Kosmosgondel und das Kosmodrom, eine elektrische
Autorennbahn und eine ganze Reihe anderer politisch
korrekter Rundfahrgeschäfte.
Im Kulturpark an der Spree wehte ein anderer Wind als im
amerikanischen Disneyland. Zwar gab es auch hier einen
Autoscooter, aber das Kindertheater Hops und Hopsi sorgte für
pädagogisch wertvolle Unterhaltung. Und in der Mitte des
Kinderkarussells Brummel drehte sich eine altmodische Rakete,
die deutlich an Sojusmodelle erinnerte. Lediglich die
kreisenden Limousinen erinnerten entfernt an einen
amerikanischen Chevrolet. Die Traktoren aber sahen aus wie
auf Brandenburgs sandigen Äckern. Funktioniert hat der
Kulturpark dennoch. Drei Millionen Besucher kamen jedes Jahr.
Plötzlich aber sind die Karossen der Hutbahn Chapeau Claque
auf halber Strecke stehen geblieben. Als hätte man eines
Tages den Strom abgedreht. Im Kassenhäuschen steht noch
immer die Kaffeetasse des Kassierers, als hätte er am
nächsten Morgen an seinen Arbeitsplatz zurückkehren wollen.
Wo einst jeder - "1 Los: 1 DM" - gewann, haben am Ende alle
verloren. Mindestens 15 Millionen Euro Schulden hat der
Spreepark dem Westinvestor im wilden Osten eingebracht. So
viel, dass Norbert Witte im Januar 2002 kurz entschlossen mit
seiner zwölfköpfigen Familie, dem Fliegenden Teppich und fünf
weiteren Karussells nach Peru flog, um dort sein Glück zu
versuchen. Der Sohn aus einer Hamburger Schaustellerfamilie
wollte nach der fehlgeschlagenen Eroberung des Ostens in der
Hauptstadt Lima einen Lunapark errichten. Währenddessen
wurde in Berlin das Insolvenzverfahren eröffnet.
Seit drei Jahren stehen die Räder im
Karussellpark jetzt still. Eines Parks,
der in den Jahren nach der großen
Wende zum beliebtesten Ausflugsziel
der Westberliner Kinderläden und
Schulklassen avanciert war und wegen
seiner humanen Eintrittsgelder sogar
den Nachwuchs von
Sozialhilfeempfängern beglückte. Eine
Ost-Mark kostete einst der Eintritt, am
Ende waren es 28 Westmark. Den
großen Sprung von Ost nach West hat
der Park nicht verkraftet. Witte und seine Spreepark GmbH, die
immerhin noch mit 1,5 Millionen Besuchern jährlich rechneten,
hatten sich verkalkuliert: Im vergangenen Jahr waren es
gerade noch 300 000, so viele wie in den ersten beiden
Wochen des Oktobers 1969.
Nur ein paar Meter von dort, wo einst lange Warteschlangen
sich auf den Park zu bewegten, sitzen zwei Männer auf einer
Bank in der Sonne. Zwischen sich zwei Büchsen Berliner Pils,
zwei Raviolidosen und eine Dose Katzenfutter. Für die sechs
Katzen, die noch da sind. Die beiden Männer füttern sie jetzt
jeden Tag. Weil selbst Mäuse und Ratten das sinkende Schiff
längst verlassen haben. "Wenigstens die Katzen sollen noch
was zum Leben haben", sagt der Dünne und zieht die
Schirmmütze ein bisschen tiefer ins Gesicht. Er war "ja nur
Springer", wurde eingesetzt, wenn die andern Mittag machten,
oder wenn einer der Schausteller mal ausfiel. "Aber dann hat
sich der Witte nach Peru abgesetzt", und seitdem sitzen sie
hier. Fast jeden Tag. Wenn die Sonne scheint. Vielleicht auch,
wenn es regnet. "Wo sollen wir sonst hin? Wir haben ja nichts
zu tun", sagt der Dünne. "Und vielleicht machen sie ja noch mal
auf."
Doch hinter den beiden Spreeparkarbeitern ohne Spreepark
heben die langen Arme eines Kranwagens gerade ein
gigantisches Stahlgerüst aus den Angeln. Die orangefarbenen
Schienen der berühmten Mega-Loopingbahn - einen Kilometer
lang, 32 Meter hoch, eine der größten Europas - war eine
Legende unter den Achterbahnen. Jetzt haben Franzosen das
Konstrukt gekauft. Auch die Gondeln der Wildwasserbahn, die
aus über vierzig Metern Höhe ins Wasser stürzten, sind bereits
der Insolvenz zum Opfer gefallen. Das waren die Highlights,
die rückten die Stadt an der Spree in die Nähe von
Kopenhagen, Wien und Moskau, das erinnerte an Namen wie
Prater, Tivoli und Gorkipark.
"Es interessierte sich ja schon mal eine französische Firma für
den Park", sagt der Dünne. "Die wollen eine kleinere Version
hochziehen. Aber mit einem Parkhaus für 1000 Autos im Wald.
Dabei ist das Naturschutzgebiet. Der Witte durfte hier nicht
einen einzigen Parkplatz bauen." Die beiden Männer wissen,
was sich auf ihrem einstigen Arbeitsplatz tut. Der Konzern
Crévin & Compagnie, bereits Besitzer zehn anderer
Freizeitparks in Europa, hat schon vergangenes Jahr Interesse
am Gelände bekundet und mindestens eine halbe Million
Besucher jährlich errechnet.
Die Kunde vom französischen Großunternehmer drang sogar
bis ins ferne Peru, und plötzlich stand, zum Erstaunen aller,
auch der Pechvogel Norbert Witte wieder vor Berliner Türen.
Nachdem der Lunapark auf dem Jockey Plaza in Lima nicht so
richtig in Schwung kam, trat Witte im Herbst 2002 zum
Erstaunen aller Beteiligten vors Amtsgericht in Charlottenburg
und sagte: "Die elektrischen Leitungen der Karussells sind
noch okay. Wir räumen alles auf, leasen ein paar neue
Fahrgeschäfte dazu, und dann kann's losgehen." Aber der
Senat sah in Witte eher einen "Verbrecher" als einen
Geschäftspartner, und der glücklose Unternehmer verlor
endgültig die Lust am Lustgarten und kehrte schleunigst nach
Peru zurück. Doch die Franzosen haben noch immer nichts
unterschrieben, und inzwischen suchte auch der dänische Tivoli
nach einem geeigneten Gelände, um eine Zweigstelle des
legendären Vergnügungsparks in Berlin zu stationieren."Manchmal rollen schwarze Limousinen auf das Gelände" der
Ruinen, mit fremden Nummernschildern, "und Männer in feinen
Anzügen sehen sich hier alles an", sagt der Dünne. "Aber die
schütteln alle nur die Köpfe. Das sieht ja auch aus wie auf dem
Schrottplatz hier! Wer nicht weiß, wie das mal war, der hat ja
keine Ahnung."
Rolf Deichsel, der Chef vom Westernvillage, hat eine Ahnung.
Auch er hat den zuständigen Behörden ein Konzept zur
Wiederbelebung des Spreeparks vorgelegt und zehn Millionen
Euro für den Schrottplatz geboten. Deichsel hat sein halbes
Leben hier verbracht. Seit 1976 ließ der Pferdezüchter, der
bereits als Vierzehnjähriger den ersten prämierten
DDR-Champion aus seinem Ponystall führte, seine vierbeinigen
Lieblinge im Spreepark laufen, "echte, lebende Ponys", wie die
Berliner Zeitung damals noch euphorisch schrieb. Denn Pferde
waren Gold wert in der DDR, "für ein Pferd bekam man ein
Auto, für einen prämierten Hengst vier. Hinterm Pferdeschwanz
ist noch keiner verhungert", sagt Deichsel.
Und wenn Deichsel das sagt, dann stimmt das. Seine
Erfolgsgeschichte begann mit sechs Ponys und kleinen
Kutschen, in denen die Kinder im Kreis fuhren, für 25 Pfennige
die Fahrt. "Und wenn eine Mutter viele Kinder hatte, dann
konnte ich die Karten abreißen, ohne zu kassieren. Die Karten
bezahlte später das Amt." Aber weil alle Frauen ständig darum
bettelten, ihre Kleinen mal auf den Rücken eines echten
Pferdes setzen zu dürfen, baute er außerhalb des Parks eine
kleine Reitbahn. Wenn der Kulturpark um zwölf Uhr öffnete,
hatte Deichsel sein Brot schon verdient.
Und als Deichsel eines Tages die Futtergenehmigungskarten
für seine inzwischen siebzig Pferde beim Magistrat holte, stieß er ganz unerwartet auf eine weitere Einnahmequelle. Man
sprach ihn auf eines dieser Geschäfte an, die der sozialistische
Osten mit dem kapitalistischen Westen ausgehandelt hatte. Es
ging um Pferdeblut, das die BRD zur Serumherstellung aus
LPG-Beständen importierte. Deichsel hatte bereits
Leiterplatten für Fernsehgeräte der Marke Grundig produziert,
und der Vermehrungfreudigkeit seiner vierbeinigen Lieblinge
tat das zusätzliche Geschäft keinen Abbruch: Als die Mauer fiel,
führte er 152 Pferde zur Schlachtbank. "Sie sollten keinen
Hunger leiden in der neuen Welt."
Doch wenige Jahre später pachtete Deichsel ein Stück Land im
wilden Westen des Ostens, baute im Spreepark ein Dorf und
ließ die Pferde wieder kreisen. Er wohnt noch heute im
ausgestorbenen Westernvillage, neben dem Saloon und der
Western Bank. Pferde hat er jetzt keine mehr, doch noch
immer sind sie sein Glück. Denn Deichsel betreibt inzwischen
einen florierenden Handel mit Wurstwaren aus Pferdefleisch."Aber nicht mit dem Fleisch ausgedienter Jahrmarktspferde,
sondern verwilderter Tiere aus Brasilien und Mexiko. Die
werden vom Helikopter aus geschossen und haben nie ein
Halfter gesehen."Deichsel sagt, er habe ein Herz, und klopft sich auf die Brust.
Für Pferde, und für Menschen. Und wenn er den Parkübernehmen sollte, dann nicht des Geldes wegen. Sondern
weil dieses Dorf sein Zuhause ist. Weil dieses kleine Stück
vergammelnde DDR seine Welt ist. Und weil der Anblick ihn
schmerzt. Er hatte sich das alles anders vorgestellt. Er hatte
seinem Dorf einen mexikanischen Anstrich geben wollen, aber
schon nach einem Jahr kam der Mann aus dem Westen,
Norbert Witte, und kaufte seinem Pächter die gutbesuchte
Siedlung im Park wieder ab. Er strich die Fassaden weiß,
machte aus der Western-Spielhalle das Good Luck Playhouse,
aus der Schießhalle die Shooting Gallery, und eröffnete, wo
man einst Würstchen grillte, den Plaza Grill. Am Eingang des
Westernvillage begrüßte Witte die exsozialistischen Besucher
euphorisch mit der amerikanischen Flagge, und er
verabschiedete sie optimistisch mit "See you again". Doch seit
Oktober 2000 kam niemand wieder.
Manchmal noch bleiben neugierige Spaziergänger am Zaun
stehen und blicken verstohlen durch den Maschendraht. Selten
klingelt einmal ein Spaziergänger beim Wachdienst und fragt,
was aus alledem nun werden soll. Seltener fragt jemand nach
Deichsel, und noch seltener erhält er eine Antwort. Aber es
kommt vor, dass der Chef vom Westernvillage die Tür öffnet
und sagt: "Kommen Sie, jetzt kommen Sie, und ich zeige Ihnen
etwas." Dann führt er die Neugierigen in das
Spezialitätenrestaurant, das am Eröffnungstag "bis zum
letzten Platz ausgebucht" war, wie die Zeitungen allesamt
schrieben. "Bei ungarischem Hirtenspieß, sowjetischem
Husarensteak, polnischen Geflügelspezialitäten und
bulgarischem Güvatsch lernten die Berliner kulinarische
Spezialitäten aus den befreundeten Volksrepubliken kennen." Deichsel tritt einen Balken beiseite, mit dem die Tür
verbarrikadiert ist, "für 17 Millionen von den Schweden gebaut.
Hier", sagt er und deutet auf die Zerstörung, tritt an den
Plastetresen, der noch immer orangerot zwischen
heruntergefallenen Deckenverkleidungen, auseinander
gerissenen Leitungen und leeren Fässern hervorleuchtet,"hier, das war mein Platz, an dieser Ecke, da hab ich immer
gestanden. Und gekommen bin ich durch die Tür da, auf einem
weißen Schimmel! Und hab ihn hier am Tresen angebunden
und mein Bier getrunken. So war das." Und so sollte es wieder sein: Lustig wie damals zu DDR-Zeiten.
Doch ob jemals wieder Popkorn kauende Familien durch die
Wildwest-Kulisse schreiten, Kutschen vor dem Saloon warten
und Kinder durch Wild-West reiten, ist mehr als ungewiss.
Denn dass Deichsel mit seinen Ponys ins Konzept der
Franzosen mit ihrem Delfinarium, dem Asterix-Park und dem
Wachsfigurenkabinett passt, glaubt auch er nicht.
"Naja", sagt der Dünne von der Bank und macht die Dose
Ravioli auf, "eigentlich ist das hier ja gar nichts besonders. Ist
doch überall Schluss mit lustig." Dann angelt er mit der Gabel
eine Nudel aus der roten Soße. "Nur hier im Spreepark sieht
man's besser."
- 2003
© Hans W. Korfmann
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